Neue Erzählungen



 

Der Rausch

Hunsrück. Zwei Brüder streiten sich um eine Frau.

Rausch

Die Brüder Johannes und Rainer

Das Taxi stoppt auf dem Dorfanger. Ein hochgewachsener Mann mit einem schwarzen Zopf steigt aus dem Wagen und rückt seinen Stetson weiter in die Stirn. Kaum wahrnehmbar bewegen sich die Gardinen in den Fenstern der umliegenden Häuser. Juan Garcia Alvarez wippt mit seinem Stiefel auf und ab, schaut auf seine Taschenuhr, dessen Deckel in der Sonne aufblitzt. Da braust ein Auto heran, stoppt und ein Mann mit gerötetem Gesicht zwängt sich hinter das Lenkrad hervor.

„Herr Alvarez?“

„Ja. Und Sie sind Makler Hämmerling?“

„Richtig, steigen Sie bitte ein.“

Der Stern auf der Motorhaube führt sie über einem Bach und an der Dorfkirche vorbei. Sie passieren einen Bauernhof, dessen erloschene Fenster in den frühen Morgen starren. „Was ist denn mit dem Hof geschehen?“ Juan Garcia dreht sich um.

„Ach, das ist eine traurige Geschichte, kaufen können Sie das Anwesen leider nicht, der Erbe wird noch gesucht, der lebt irgendwo im Ausland.“

Zwei Stunden später unterzeichnet Juan Garcia Alvarez den Kaufvertrag für das letzte Haus oben an der Kammstraße. Der Blick auf das Dorf wischte seine Bedenken beiseite.

 

1983, Sommerferien Braunbach. Der Geruch frisch gemähten Grases erfüllt die Morgenluft. Die Wärme der frühen Sonnenstrahlen geben schon einen Vorgeschmack auf die Hitze des Nachmittags. Die Brüder, Johannes und Rainer, schauen von der Weide am Hochwald hinunter auf ihr Dorf, dessen Geschäftigkeit bis hoch zu ihnen schallt. Der Jüngere der Beiden, Rainer, zeigt auf die Höfe und Häuser. „Von hier aus ...“ Aber weiter kommt er nicht. Wie aus dem Nichts rast ein Sirren über sie hinweg, zerfleddert seine Worte und endet in einem ohrenbetäubenden Röhren. Dann schießt der Nachbrenner die Phantom II in die Stille des Morgenhimmels. Wie ein Abschiedsgruß legt sich eine schwarze Rauchfahne über die Fichten des Hochwaldes. „Diese verdammten Flieger!“ Rainer nimmt seine Hände von den Ohren. „Was ich sagen wollte. Von hier oben erinnert mich das Dorf an eine Modelleisenbahn, so wie sie Pfarrer Hansen aufgebaut hat. Nur die Schienen fehlen.“ Er grinst. „Aber sag mal, willst du wirklich Ingenieur werden, ich mein, so richtig vom Dorf weggehen?“ 

Johannes, groß für sein Alter, streicht seine schwarzen Haare hinter die Ohren. „Ja, klar. Ich muss raus aus diesem Kaff, weg aus dem Hunsrück und ab in die weite Welt, wo es nicht nur Kühe, Schweine und Traktoren gibt. Und die Monika vom Wagnerhof kommt mit, das hat sie mir gestern in der Scheune versprochen.“

Rainer springt auf, spuckt einen Grashalm im hohen Bogen auf die Wiese. „Nee, ich bleibe hier im Dorf, ich werde Bauer auf unserem Harderhof, so wie Papa einer ist. Und die Monika wird meine Bäuerin!“

 

1987, Dorffest Braunbach. Rainers Faust trifft Johannes voll ins Gesicht, er taumelt und fällt direkt in das hochschnellende Knie. Unter Schlägen sinkt er in das aufgeweichte Gras des Dorfangers, schützt den Kopf mit seinen Händen vor weiteren Tritten. Nur mit äußerster Kraft schafft es Monika, Rainer davon abzuhalten, wie irrsinnig auf seinen Bruder einzutreten. Dabei herrschte zunächst eine heitere Stimmung, die Leute erzählten und genossen ihr Bier, nur die Jugendlichen fanden kein Maß. Darunter auch die beiden Brüder. Zuletzt trinken sie Schnaps. Da küsst Monika Rainer und Johannes rastet aus. Er schlägt nach dem Rivalen, mit dem Ergebnis, dass er jetzt blutend im Morast liegt. Lehrer Hoffmann schleppt ihn in die Toilette des Dorfkruges, hält ihn aufrecht, um sich das Blut und den Schmutz aus dem Gesicht zu waschen, bringt ihn dann nach Hause auf den Hof. „Ja, ja, ich habe es verstanden! Sie gehört jetzt zu ihm, will auch Bäuerin werden, dass ich nicht lache!“ Johannes Gedanken rasen. „Alles war Lüge, Lüge und nochmals Lüge: ihre Versprechungen, ihre Küsse, ihre Zärtlichkeiten in der Scheune.“ Er wirft sich aufs Bett, vergräbt sein zerschundenes Gesicht in das Kopfkissen. Spät am Abend verlässt er sein Zimmer und läuft die Kammstraße hinauf bis zu einem Rohbau, der am Ende der Straße errichtet wird. Dort findet er einen Platz in einer offenen Fensterhöhlung und schaut hinunter auf das friedlich daliegende Dorf. Auf dem Berghain gegenüber lodern die Fichten auf dem Kamm wie im Feuer auf, dann steigt die Sonne in das Tal dahinter. Johannes springt von der Brüstung. Schon in der Nacht wird er das Dorf und das Land verlassen.

2014, Harderhof Braunbach. Die Air-Force hat vor einigen Jahren den Hunsrück aufgegeben. Kein Grollen tieffliegender Kampfjets mehr, dafür die Trostlosigkeit leerer Hangars und Kasernen. Rainer greift nach der Flasche Korn, die neben ihm auf ihren trostspendenden Einsatz wartet und die Holzbank ächzt unter dem Gewicht von Mensch und Alkohol. In einer Ecke des Hofplatzes streckt ein Pflug seine verrosteten Schalen in die Höhe, ein paar tapfere Ringelblumen im Bauerngarten stemmen sich der vorrückenden Front aus Brennnesseln entgegen. Im Flur des Hauses schlägt eine Standuhr die zwölfte Stunde. „Morgen werde ich das Ding nicht mehr aufziehen, wozu denn noch?“ Er nimmt den Brief, der neben ihm auf der Bank liegt. „An meinen Bruder Johannes, Aufenthalt unbekannt“. Mit zittriger Hand schrieb er diese Zeilen direkt nach dem Aufstehen, bevor er die heutige Flasche öffnete.

Ende September findet ihn der Dorfpolizist tot am Küchentisch, vor sich seine Worte an den Bruder.

 

2017, Haus auf dem Kamm, Braunbach. Die erleuchteten Fenster in den Häusern des Dorfes erzählen das nimmermüde Märchen von Frieden und Eintracht hinter ihren Gardinen. Fast ein Jahr lebt Juan schon hier oben auf dem Hang, aber die Menschen da unten meiden ihn, so gut es geht. Wie immer an einem Mittwoch erreicht ihn der Telefonanruf aus Mexiko, sein Kompagnon teilt ihm den Stand der Geschäfte mit. Da zersplittert Glas in der Küche, deren Fenster zum Berghang zeigt und etwas Schweres poltert auf den Fliesenboden. Juan wirft den Hörer in einen Sessel, rennt los, aber zu spät: von dem Täter keine Spur. Vor der Spülmaschine liegt ein Pflasterstein, umwickelt mit einem Papier. Er liest: „Hau endlich ab! Typen wie dich, die nach unseren Mädchen und Frauen geifern, dulden wir nicht in unserem Dorf. Geh zurück in deinen Urwald, du Affe! Letzte Warnung.“

„Diese Blödmänner! Schon das dritte Mal!“ wieder klebt er ein Stück Pappe vor das Loch in der Scheibe. „Es wird schon aufhören, wenn ich endlich loslegen kann.“  Er ruft den Glaser in Idar an.

 

2018, Haus auf dem Kamm, Braunbach. „Post aus Mexiko!“ Der Briefträger hält ihm ein Einschreiben entgegen und versucht dabei, einen Blick in die Wohnung zu erhaschen. „Bitte unterschreiben Sie hier.“

Sofort erkennt Juan den Absender. „Der Scheck aus Mexiko-City, endlich. Jetzt kann es losgehen.“ Morgen früh will er den Ortsvorsteher aufsuchen. „Unser Dorf soll schöner werden“, wird er zu ihm sagen.

Nach einem ausgiebigen Spaziergang bis hinauf zu der Weide am Hochwald, kehrt Juan müde in sein Haus zurück. In der Dämmerung erhebt sich ein starker Wind, der heftig an den Fenstern rüttelt. Er entzündet ein Feuer im Kamin und holt eine Flasche Tequila aus dem Vorratsraum, die er für Gäste, die nie kamen, dort aufbewahrt hatte. „Auf den Erfolg! Auf die Zukunft von Braunbach!“ Er trinkt ein Glas, nimmt den Brief, der ihn vor zwei Jahren in Mexiko-City erreichte und setzt sich auf die Couch:

An meinen Bruder. Ich weiß nicht, wo Du jetzt wohnst oder ob Du überhaupt noch lebst. Wirst Du jemals zurück in unser Dorf kommen? Ich schreibe Dir am frühen Morgen, bevor mich der Teufel Alkohol wieder in seinen Kralle bekommt. Wie jeden Tag. Monika ist schon lange fort, abgehauen mit einem Ingenieur aus Idar-Oberstein. Jetzt wirst Du auflachen und denken: Das Leben ist doch gerecht. Aber mich hat es zerbrochen und ich ahne, dass ich nicht mehr viel Zeit habe, die mir hier auf dem Bauernhof verbleibt, den mir Papa einst stolz übergeben hat. Ich kann es kaum erwarten, dieses Jammertal zu verlassen. Dann wird alles Dir gehören, Johannes. Du wirst mich auf dem Friedhof finden, neben Mama und Papa. Ich würde gern ungeschehen machen, was damals auf dem Dorffeste geschah. Warum konnten wir beide nicht wie Brüder unseren Streit um Monika lösen? Ich hoffe jetzt, dass Du mir verzeihst. Ich schreibe diesen Brief, um Dir aufrecht in die Augen zu schauen, wenn wir uns einmal wiedersehen, wahrscheinlich aber nicht mehr in dieser Welt. Rainer.

Johannes legt die Seiten beiseite und wischt sich die Tränen ab. Der Schnaps betäubt seinen Schmerz, immer wieder, bis Juan völlig betrunken auf den Boden vor das Sofa rutscht und einschläft. 

Nach einer Stunde bricht im Feuer die Holzfaser eines Scheits mit einem lauten Knacken und schleudert glühende Holzteilchen auf den Papierstapel neben dem Kamin. Zehn Minuten später läutet die Feuerglocke im Dorf.

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